Continental steht mit dem NCAP-Verbraucherschutz im Austausch, um die Zahl der Verkehrsopfer weiter zu senken. Neue Technologien werden schon heute im Sinne künftiger Anforderungen der aktiven Sicherheit entwickelt. Immer auch im Einklang mit weltweiten Gesetzen – und mit Continentals „Vision Zero“. Für diese komplexe Koordination gibt es bei Continental Automotive den Bereich Regulatory Affairs. Dr. Olaf Schädler und Heiner Hunold sind zwei Experten für dieses wichtige Thema.
- Herr Hunold, Herr Dr. Schädler, Continental verfolgt mit „Vision Zero“ das Ziel einer Welt ohne schwerverletzte und getötete Personen im Straßenverkehr. Dafür arbeiten Sie mit den Verbraucherschutzorganisationen wie zum Beispiel NCAP und ADAC sowie internationalen Gremien zur Entwicklung und Pflege von Zulassungsvorschriften für aktive Sicherheit zusammen. Dabei ist zu beachten, dass Zulassungsvorschriften für den Automobilhersteller verpflichtend sind, während die Bewertung von aktiven Sicherheitssystemen durch Verbraucherschutzorganisationen eine entscheidende Rolle für die Performance spielt. Die Bewertung der Verbraucherschutzorganisationen mit Sternen, insbesondere die von EuroNCAP (European New Car Assessment Programme) ist ein wichtiges Entwicklungskriterium in der Branche. Welche Rolle spielen diese Verbraucherschutztests für die „Vision Zero“?
Dr. Olaf Schädler: Eine sehr große. Der Verbraucherschutz, der Gesetzgeber und wir haben dasselbe Ziel: eine Welt ohne Schwerverletzte und Verkehrstote. Die wichtigste Motivation der NCAP-Organisationen ist auch unser Antrieb: Unfallopfer auf den Straßen zu vermeiden. Euro NCAP konzentriert sich dabei auf Europa, für andere Märkte gibt es jeweils individuelle NCAP-Organisationen. Wir arbeiten mit den relevanten Organisationen zusammen, um unsere Technologien im Einklang mit den individuellen Sicherheitsanforderungen in jeder Region zu entwickeln. So können unsere Kunden, die Automobilhersteller, die bestmöglichen Ergebnisse bei den verschiedenen Verbraucherschutztests erzielen.
Heiner Hunold: Und die Anforderungen der Verbraucherschutzorganisationen sind nur ein Pol, an dem wir uns ausrichten. Der andere ist der Gesetzgeber mit allen Regulierungen und Vorschriften zur Zulassung dieser Systeme im Gesamtfahrzeug. Wir bewegen uns zwischen diesen beiden Polen, die beide ausschlaggebend sind für die Entwicklung von innovativen Technologien.
- Wie wirkt sich das praktisch auf die Entwicklungsarbeit aus? Müssen Sie vor jeder Neuentwicklung erst einmal Gesetzestexte und Verbraucherschutz-Richtlinien wälzen?
Heiner Hunold: So in etwa. Wobei wir viel Erfahrung damit haben, rechtzeitig auf nötige Informationen zurückzugreifen und abzuschätzen, was künftig gefragt ist. Das ist entscheidend: Alle auch bereits in der Planung befindlichen neuen Gesetze und Bestimmungen rechtzeitig in unserer Entwicklungsarbeit zu berücksichtigen. Hier sind auf globaler Ebene zig Vorschriften zu beachten, die zudem ständig angepasst werden.
Dr. Olaf Schädler: Das gleiche gilt für den Verbraucherschutz. Der hat das Ziel, Fahrzeuge so sicher wie möglich zu machen, ausschließlich über die Anforderungen der gesetzlichen Vorschriften hinaus. Bestwerte bei den verschiedenen Assessments sind heute ein wichtiges Entwicklungskriterium. Der Schulterschluss von Industrie und Verbraucherschutz dient übrigens beiden Seiten. Wir unterstützen die NCAP-Organisation bei der Definition der Tests unter Berücksichtigung der technischen Umsetzbarkeit, um die Straßen sicherer zu machen. Anderseits werden die Ausstattungsraten von Fahrerassistenzsystemen durch die Assessments der NCAP-Organisationen erhöht.
Heiner Hunold: Ein wichtiger Punkt! Wenn beispielsweise Sicherheitssysteme zum Fußgängerschutz getestet werden, müssen wir sicherstellen, dass die „Targets“, wie man das etwas nüchtern nennt, also die Fußgänger-Dummys, so realistisch wie möglich in ihren Bewegungen, in ihrem Verhalten erscheinen. Für das zu testende System darf es keinen Unterschied machen, ob ein Dummy oder ein Mensch die Straße kreuzt. So beraten wir als Entwickler von Systemen für das automatisierte Fahren, Sicherheitssystemen, Sensoren und Fahrerassistenzsystemen nicht nur die NCAP-Organisationen bei der Erstellung der Testprotokolle, sondern auch die Hersteller der Test-Targets bei der Entwicklung von Dummys für Menschen, Tiere, Fahrzeuge und Motorradfahrer.
- Ende 2022 hat Euro NCAP, die europäische Verbraucherschutzorganisation, eine Roadmap „Vision 2030“ verabschiedet. Was bedeutet das konkret für die Continental-Vision einer Welt ohne Unfälle?
Dr. Olaf Schädler: Wir müssen nicht nur die aktuellen NCAP-Testprotokolle berücksichtigen, sondern über Kenntnis der zukünftige Testanforderungen verfügen. In unseren Forschungs- und Entwicklungszentren bewegen sich die Kolleginnen und Kollegen drei bis zehn Jahre in der Zukunft der Mobilitätswelt. Für Neuentwicklungen sind derzeit gültige Anordnungen eventuell gar nicht mehr allein relevant. Derzeit gilt zum Beispiel das Reglement des Zeitfensters 2023-2025. Im Jahr 2026 kommt ein Update des Euro NCAP-Assessments, das in der „Vision 2030“ angekündigt wurde. Die zukünftigen Anforderungen werden unserem Unternehmen rechtzeitig bekannt gemacht, damit die Entwicklung ausreichend Zeit zur Implementierung hat.
Heiner Hunold: Continental hat zum Beispiel eine Funktion entwickelt, die erkennt, ob in einem geparkten Auto ein Kind zurückgelassen wurde. Bei dieser Erkennungsfunktion greifen Neuentwicklungen und bewährte Technologien ineinander und ist seit 2023 Teil des Euro NCAP-Assessments. Bereits millionenfach eingesetzte Sensorsysteme arbeiten mit neuen Softwareanwendungen zusammen. Dank der NCAP-Roadmaps für verschiedene Märkte können wir heute schon kommende Neuausrichtungen erweiterter Testanforderungen dieser Funktion berücksichtigen.
Dr. Olaf Schädler: Ein weiteres Beispiel ist der Schutz von Fahrradfahrern und Fahrradfahrerinnen, die sich von hinten einem parkenden Fahrzeug nähern. Hier haben wir ein System entwickelt, das verhindert, dass ein Radfahrer mit einer unachtsam geöffneten Autotür kollidiert. Dafür können wir im Heckbereich des Autos bereits verbaute Radarsensoren nutzen und den Fahrer oder die Fahrerin warnen, wenn sich ein Radfahrer dem Fahrzeug von hinten nähert. Noch nicht berücksichtigte Verkehrsteilnehmer, wie beispielsweise E-Scooter, werden in zukünftigen Verbraucherschutzbewertungen sowie in unseren Systemen berücksichtigt.
- Die Neuausrichtung der Testszenarien wandelt sehr schnell. Jetzt sollen bereits alle drei Jahre neue Anforderungen erfüllt werden.
Heiner Hunold: Das ist richtig. Die hohe NCAP-Taktung ist eine Reaktion auf neue gesetzliche Vorschriften in Europa. Die allgemeinen Sicherheitsvorschriften der Europäischen Union (General Safety Regulation Teil II) zielen darauf ab, den Straßenverkehr noch einmal sicherer zu machen. Das betrifft beispielsweise Fahrerassistenzsysteme wie den Notbremsassistenten für kreuzende Kinder oder Radfahrer. Die somit höher werdenden gesetzlichen Anforderungen an die Genehmigung von Notbremsassistenten führen dadurch auch zu einer Erweiterung der Verbraucherschutzprotokolle, indem die Testanforderungen steigen.
Dr. Olaf Schädler: Das betrifft übrigens auch den Bereich der Nutzfahrzeuge, mit besonderer Betonung auf dem Abbiegeassistenten. Das Abbiegen von Nutzfahrzeugen in der Stadt ist ein wichtiger Anwendungsfall, denn noch immer ereignen sich zu viele Abbiegeunfälle mit Todesfolge. Hier hat die EU reagiert und eine entsprechende Zulassungsvorschrift eingeführt. Neu produzierte Fahrzeuge, die den dort geforderten technologischen Anforderungen nicht entsprechen, werden nicht mehr zugelassen. Sind bei der Anschaffung von Lkw der Verbrauch, die Unterhaltskosten und die Nutzlast wichtige Kaufkriterien, rückt nun auch der Aspekt Sicherheit durch den Gesetzgeber sowie Euro NCAP-Tests in den Fokus. Diese Tendenz wird auch durch die Unfallforschung gestützt. So wurde durch unsere Unfallforschung analysiert, dass in Deutschland ungefähr 1.200 Fußgänger bei Unfällen mit Lkw und Lieferfahrzeugen zu Schaden kommen.
- Der Boom des Online-Handels?
Dr. Olaf Schädler: Ganz genau. Das veränderte Einkaufverhalten der Konsumenten ist ein wichtiger Grund für das Unfallgeschehen mit Kleintransportern. Die Menschen bestellen verstärkt online, es werden mehr Pakete verschickt, dadurch sind mehr Lastwagen und Lieferwagen auf den Straßen. Zudem wurde festgestellt, dass sich kleinere Lieferwagen im Fahrverhalten sich dem Pkw ähneln, jedoch nicht optimal mit Fahrerassistenzsystemen ausgestattet sind.
Heiner Hunold: Da kommt dann Euro NCAP ins Spiel. Jetzt beschäftigt sich der Verbraucherschutz mit dem Thema Lieferwagen und Lastwagen. Das wiederum bedeutet für die Hersteller, und für Technologieunternehmen wie Continental, bei Systementwicklungen neue Testanordnungen für Transportfahrzeuge zu berücksichtigen. So etwas kann dann auch mal sehr schnell gehen: Euro NCAP hat das Lkw-Assessment im April 2024 angekündigt und im November 2024 wird der erste Bewertungskatalog für Nutzfahrzeuge veröffentlicht.
Dr. Olaf Schädler: Fazit ist, dass der Verbraucherschutz über den Wettbewerb sicherstellt, dass der Verbraucher über die Fahrzeuge mit den besten Systemen informiert ist. Als Partner der Automobilhersteller stellen wir Fahrerassistenzsysteme und Sensoren bereit, die in Ergänzung zum Verbraucherschutz, im Einklang mit den relevanten Zulassungsvorschriften und deren Mindestanforderungen stehen. So greifen dann die verschiedenen Räder, nämlich Hersteller, Zulieferer, Verbraucherschutz und die jeweiligen Zulassungsvorschriften ineinander, um gemeinsam eins zu erreichen: den Straßenverkehr sicherer zu machen und die ‚Vision Zero‘ Realität werden zu lassen.