Continental verfolgt ein großes Ziel: Die Vision Zero, eine Welt ohne Unfallopfer im Straßenverkehr. Bis dahin werden sich Unfälle nicht ganz verhindern lassen – aber ihre Folgen können minimiert werden. Andreas Forster ist Experte für Rückhaltesysteme im Innovationsbereich für Passive Sicherheit und Sensorik bei Continental. Er erklärt die wichtigsten Technologien und Forschungsansätze, um die Menschen vor gravierenden Verletzungen bei derzeit unvermeidbaren Unfällen zu schützen.
- Herr Forster, Vision Zero ist ein anspruchsvolles Ziel. Wie weit entfernt sind wir davon?
Wir müssen das Ziel „Vision Zero“ differenziert betrachten. Unfälle weitgehend verhindern zu können, das ist das eine. Das wird sicher kommen, dauert aber sicherlich noch einige Dekaden. Was uns aber heute schon sehr gut gelingt, und mit jeder Innovation mehr: Die Auswirkungen eines unvermeidbaren Unfalls abzumildern und so die Zahl von Todesfällen und schweren Verletzungen im Straßenverkehr weiter zu senken. Die Europäische Kommission will die Zahl der Verkehrstoten in jeder Dekade halbieren. Das ist ehrgeizig, aber realistisch. Wir sind dabei.
- Sie sind Experte für Technologien, die im Fahrzeug greifen, wenn sich ein Unfall nicht vermeiden lässt. Was ist in Ihren Augen das wichtigste System?
Das Rückhaltesystem bestehend aus Gurt und Airbag. Es ist bis heute das zentrale Sicherheitssystem im Fahrzeug. Trotz großer Fortschritte in der Sensorik und in der vorausschauenden Vermeidung von Unfällen werden wir noch für eine geraume Zeit mit unvorhersehbaren Verkehrssituationen konfrontiert werden. Das Prinzip Airbag an sich ist schon recht alt. Aktuelle Airbag-Generationen aber sind dank innovativer Algorithmen und Steuerungssysteme der beste Schutz bei Unfällen.
- Auf dem Weg hin zur Vision Zero gilt das Prinzip Schadensbegrenzung. Was sind typische Unfallszenarien, die sich derzeit noch nicht vermeiden lassen?
Zunächst das Positive: Auffahr- und Frontalunfälle bekommen wir mittlerweile recht gut in den Griff. Innovative Sensorsysteme haben hier einen sehr positiven Einfluss auf die Unfallstatistiken. Notbrems- oder Spurhalteassistent zum Beispiel können Unfälle als Systeme der aktiven Sicherheit komplett vermeiden helfen. Gleichzeitig gewinnt das Unfallgeschehen mit seitlichen Aufprällen an Bedeutung. Insbesondere Kreuzungen sind neuralgische Unfallschwerpunkte, weil hier Fahrzeuge und andere Verkehrsteilnehmer aus verschiedenen Richtungen aufeinandertreffen. Hier haben wir zudem das Problem der Verdeckung. Fußgängerinnen und Fußgänger sowie Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer werden zum Beispiel vom Lkw an der Ampel verdeckt. Ein Bus, ein Baum und ein parkendes Auto können die Sicht auf einen Motorradfahrer oder eine Motorradfahrerin verhindern.
- Es gibt oft zwei Unfallparteien: Die Menschen im Fahrzeug sowie unter anderem Fußgängerinnen und Fußgänger sowie Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer. Wie lassen sich schwächere Verkehrsteilnehmer durch Technologien besser schützen?
Das Thema Fußgängerschutz ist heute entscheidend, um die Zahlen von Verkehrsopfern signifikant zu senken. Und bei „Fußgänger“ denke ich jetzt auch an Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer sowie Nutzerinnen und Nutzer von neuen Mobilitätsangeboten wie Elektro-Rollern. In Kreuzungsbereichen können schwächere Verkehrsteilnehmer aus allen Richtungen in allen denkbaren Winkeln vor allem im Frontbereich mit einem Fahrzeug kollidieren. Daher sind die Hersteller bemüht, die Frontpartie immer wieder im Einklang mit neuen Erkenntnissen der Unfallforschung mit neuen Sicherheitstechnologien auch von Continental anzupassen und so einen Aufprall abzuschwächen.
- Welche Technologien kommen hier zum Einsatz?
Bei vielen Fahrzeugmodellen hebt sich die Haube in Bruchteilen von Sekunden an, um den Aufprall bei einer Kollision zu verringern. Das auf Drucksensoren basierende Fußgängerschutzsystem, das den Haubenaufsteller auslöst, ist auch eine unserer Entwicklungen.
Die Motorhaube ist ein relativ dünnes Blech. Viele Verletzungen waren in der Vergangenheit gravierend, weil die Menschen durch den starken Aufprall durch eine Verformung der Haube mit dem darunter liegenden Motorblock kollidierten. Deswegen fördert zum Beispiel auch die Elektromobilität die Sicherheit. Denn bei E-Autos befindet sich kein großer Motorblock unter der Haube. Da ist genügend Raum, um in Kombination mit einer sich anhebenden Haube die Deformation zuzulassen, die Energie aufzunehmen und abzuleiten.
- Wo sehen Sie weiteres Potenzial beim Management von derzeit unausweichlichen Unfällen?
Bei Nutzfahrzeugen sehen wir großes Potenzial. Im Bereich der passiven Sicherheit kann ich mir eine Sensorik vorstellen, die kritische, sich von der Seite herannahende Situationen erkennt und im Zusammenspiel mit Anwendungen im Hochleistungsrechner – auch das ist eine wesentliche Fahrzeug-Komponente von Continental – zum Beispiel einen Lkw zum Stoppen bringt, bevor eine Fahrradfahrerin oder ein Motorradfahrer mit ihm kollidiert. Ist das nicht mehr möglich, könnte so ein System zumindest das Überfahren verhindern. Bei Lkw-Unfällen sind die Folgen nach dem Erstkontakt oft noch gar nicht so dramatisch, als wenn etwa ein Mensch unter die Räder gerät. Das lässt sich durch die entsprechende Sensorik recht gut vermeiden.
- Das klingt, als würden Sie eine Kristallkugel im Cockpit einbauen, mit der man zumindest ein paar Sekunden in die Zukunft schauen und sehen kann, was höchstwahrschlich gleich passieren wird.
Ja, das ist ein gutes Bild. Wir nennen die Kristallkugel ‚Crash Prediction‘, also Unfallvorhersage. Im Bereich der passiven Sicherheit sprechen wir eher von einer halben Sekunde, also von vier- bis fünfhundert Millisekunden, die wir in die Zukunft schauen.
Diese „Kristallkugel“ liefert uns eine Hypothese zu dem, was in ein, zwei Wimpernschlägen passieren wird. Eine sogenannte Time-to-Collision-Hypothese, wie wir das nennen. Detektiert ein Sensorsystem eine nicht zu vermeidende Kollision, kommunizieren beispielsweise Sensoren, Airbagsteuergerät und Active Emergency Belt Control, also der Gurtstraffer, in Bruchteilen von Sekunden miteinander. So können wir die Insassen bestmöglich auf den anstehenden Zusammenprall vorbereiten. Das Programmieren eines Airbagsteuergeräts ist dabei entscheidend, eine hochkomplexe Disziplin im Fahrzeugbau. Die große Herausforderung ist, dass sich der Airbag exakt dann entfaltet, wenn die Insassin oder der Insasse nach vorne oder zur Seite geworfen wird. Das Setting unterscheidet sich von Hersteller zu Hersteller, von Fahrzeug zu Fahrzeug. Hier ist enorme Expertise gefragt, um ein perfektes Zusammenspiel aller Komponenten zu garantieren.
- Entscheidend ist auch, wie die Insassen im Fahrzeug positioniert sitzen. Sind die Rückenlehnen sehr gerade ausgerichtet, oder lenkt der Fahrer, die Fahrerin lieber halb liegend zurückgelehnt.
Sehr richtig. Wir benötigen bestenfalls jederzeit ein Bild davon, wie der Nutzer oder die Nutzerin im Fahrzeug sitzt, sich bewegt, wohin der Kopf ausgerichtet ist. Daher ist bei Continental die Innenraum-Sensorik ein sehr wichtiges Forschungs- und Entwicklungsthema.
- Eine Kamera an der Sonnenblende zu montieren reicht vermutlich nicht.
Die Lösungen sind komplexer. Wir haben zum Beispiel ein Display entwickelt, bei dem die Kamera unsichtbar im Bereich des Touchscreens verbaut ist. Man will sich im eigenen Auto nicht unbedingt beobachtet fühlen.
Wobei die Kamerasysteme unseres sogenannten Occupant Safety Monitor natürlich keine Bilder generieren, die irgendjemand bei Continental oder beim Fahrzeughersteller sich anschauen würde oder könnte. Das macht nur der Bordcomputer. Der benötigt aber noch weitere Daten, um die Insassen für einen möglichen Unfall vorzubereiten und optimal auszurichten.
- Welche denn?
Wie schwer ist die Fahrerin, der Fahrer? Mit dem Körpergewicht hängt die Wucht zusammen, mit dem Kopf oder Körper in den Airbag fallen. Dafür haben wir Gewichtssensoren, die in den Sitzen verbaut werden. Wie groß sind die Passagiere? Auch das Alter kann ein wichtiger Parameter sein, denn beim Aufprall wirken enorme Kräfte über das Gurtsystem auf den Brustkorb. Und: Wie und wo sitzt der Insasse konkret, bevor ich automatische Rückhaltesysteme aktiviere?
- Welcher Sensor verrät Ihnen denn das Alter eines potenziellen Unfallopfers?
Die Kamera. Anhand von Bilddaten lässt sich das Alter eines Menschen recht gut schätzen. Natürlich nicht exakt und aufs Jahr genau, aber das benötigen wir auch nicht. Was wir wissen wollen: Sitzt dort ein älterer oder ein jüngerer Mensch. Daraus können wir die entsprechenden Szenarien ableiten, die Stärke der Rückhaltesysteme wie Gurtstraffer, die Bestimmung des individuellen Airbagdrucks.
- Der Druck wird jeweils individuell eingestellt?
Das ist entscheidend! Ist der Druck für das Gewicht und die Größe des Insassen zu gering, schlägt der Kopf durch den Airbag hindurch auf dem Lenkrad auf. Ist er zu hoch, prallt er am Airbag wie auf einem Trampolin ab. Es geht darum, die Bewegungsenergie der Insassen durch das präzise Regulieren des Airbagdrucks im Moment des Aufpralls mit dem abströmenden Airbag-Gas abzuleiten und die Unfallfolgen zu minimieren. Das ist generell das Prinzip der passiven Sicherheitssysteme: Die Kräfte, die durch eine Kollision erzeugt werden, so umzuleiten, dass sie den Verkehrsteilnehmern möglichst wenig Schaden zufügen können. So können wir Menschen wie Fahrzeuge immer besser auf derzeit noch unvermeidbare Kollisionen vorbereiten. Auch mit scheinbar kleinen Stellschrauben können wir große Schritte hin zu einer Welt ohne Unfallopfer gehen.